Japan: Die Bevölkerung schrumpft - wie der Staat junge Menschen zum Kinderkriegen animieren will (2024)

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Japan: Die Bevölkerung schrumpft - wie der Staat junge Menschen zum Kinderkriegen animieren will (1)

»Tokyo Futari Story«. So heißt die App, die die Stadtverwaltung von Tokio noch in diesem Jahr herausgeben will und die ein großes Problem des Landes lösen soll: das Absinken der Geburtenrate stoppen. Futari heißt so viel heißt wie »Paar«. Das Ziel der Dating-App: junge Menschen zusammenzubringen, die heiraten und vor allem Kinder bekommen wollen. Viele Details sind noch nicht bekannt. Berichte, wonach Nutzerinnen und Nutzer bei der Registrierung ein Formular unterschreiben müssten, dass sie heiraten wollen, hat die Stadtverwaltung nicht bestätigt.

122 Millionen Menschen leben in Japan, im vergangenen Jahr wurden 727.277 Babys geboren. Zu wenige. Seit Anfang der Nullerjahre stagniert die Geburtenrate in Japan auf dem Niveau von etwa 1,3 Kindern pro Frau. Damit die Bevölkerung nicht zurückgeht, müssen Frauen jedoch mindestens zwei Kinder zur Welt bringen. Mittlerweile hat sie mit 1,21 Kindern pro Frau im Jahr 2023 einen neuen Tiefstand erreicht. Das hat unter anderem negative Auswirkungen auf die Wirtschaft.

Japans Ministerpräsident Fumio Kishida hat deshalb die Bewältigung des Geburtenrückgangs zu einer seiner obersten Prioritäten erklärt und versprochen, bis 2026 etwa 3,5 Billionen Yen (22,5 Milliarden Euro) für ein neues Paket zur Kinderbetreuung bereitzustellen. Geburten und Kindererziehung sollen finanziell unterstützt, die Hochschulbildung subventioniert werden. Die Einwanderungsbestimmungen, bisher in Japan sehr restriktiv, sind bereits gelockert worden.

SPIEGEL: Herr Yamash*ta, der japanischen Regierung bleibt nur noch bis 2030, um den Bevölkerungsschwund umzukehren. Danach lässt er sich kaum mehr stoppen. Wie kommt das?

Yamash*ta: Die Geburtenrate in Japan war ja nicht immer so niedrig. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es hier eine erste Welle von Babyboomern. Eine Frau brachte im Schnitt 2,7 Kinder zur Welt. Die sind heute Ende 70, Anfang 80. Die Generation führte zu weiteren geburtenstarken Jahrgängen in den Siebzigerjahren: Sie sind heute 50. Diese Generation hat jedoch kaum mehr Kinder bekommen: Es traf sie die japanische Wirtschaftskrise Anfang der Neunzigerjahre hart. Seitdem sehen wir dabei zu, wie die Bevölkerung schrumpft, die Alten leben länger, aber es kommen keine Jungen nach. Schulen werden geschlossen. Wenn man heute mit dem Zug fährt, begegnen einem kaum noch Mädchen und Jungen.

SPIEGEL: Warum ist das so?

Yamash*ta: In Japan konzentriert sich das Leben inzwischen auf die großen Städte. Seit den Nullerjahren wurde, anders als in vielen Ländern Europas, alles auf die Metropolregion Tokio hin zentralisiert. Diese Reform war die Antwort der Regierung auf die Wirtschaftskrise in den Neunzigern. Kommunen wurden verschlankt, Ministerien und Behörden umgebaut. Es gibt also ein Zentrum – politisch, wirtschaftlich, kulturell. Macht und Geld sind in Tokio. Junge Menschen, 18 oder 20 Jahre alt, ziehen aus den ländlichen Regionen dorthin. Wirtschaftlich lohnt sich das. Für Familien, für Kinder bietet das zentralisierte Tokio allerdings wenig Raum. Größere Wohnungen gibt es kaum. Je weiter man sich ins Zentrum bewegt, desto weniger Kinder sieht man. Diese urbanen, teuren Städte sind kein gutes Pflaster, um Partner zu finden und Kinder zu kriegen.

SPIEGEL: Was war früher anders?

Yamash*ta: Früher hat man Kinder in Japan nicht allein, sondern in der Gemeinschaft, in der Nachbarschaft aufgezogen. Arbeit gab es nicht nur in den wenigen urbanen Zentren, sondern über das Land verteilt. Heute gibt es riesige, neu erschaffene Wohngebiete am Rand der Stadtzentren, in denen die Menschen schlafen, um dann täglich ins Zentrum pendeln. Der Zusammenhalt in diesen Vorstädten ist gering. Wer dort Kinder aufzieht, ist völlig auf sich allein gestellt. Es sind keine gewachsenen Strukturen mit Nachbarschaften, sondern alles ist anonym. Das ist schlecht für Beziehungen, schlecht für Familien. Man könnte sagen: Das System der gegenseitigen Unterstützung ist der wirtschaftlichen Produktivität zum Opfer gefallen.

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SPIEGEL: Wie wird das Schrumpfen der Gesellschaft in Japan diskutiert?

Yamash*ta: Die Statistiken sind lange bekannt, doch erst seit ungefähr zehn Jahren wird ernsthaft darüber gesprochen. Die vorherige Regierung unter Premierminister Abe hat jedoch wenig gegen das Problem unternommen: 2011 passierte die Tragödie am Atomkraftwerk f*ckushima, das heißt, Japan stand unter Schock – es gab eine andere große Baustelle.

SPIEGEL: Verschärft wird das Problem, vor allem für die Wirtschaft, auch dadurch, dass es kaum Einwanderung nach Japan gibt.

Yamash*ta: Anders als in Europa betrachtete die japanische Regierung Migration lange Zeit nicht als eine mögliche Antwort auf die niedrige Geburtenrate. Inzwischen ändert sich das, die Einwanderungspolitik ist gelockert worden.

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SPIEGEL: Gibt es weitere Entwicklungen, die Ihnen Hoffnung machen?

Yamash*ta: Ehrlich gesagt hat die Coronapandemie etwas bewegt: Es gibt zum ersten Mal wieder Jüngere, die sich von den Ballungszentren abwenden und in ihre Heimatorte und aufs Land zurückkehren. Die Lebenshaltung ist dort günstiger, und die Rahmenbedingungen für Familienplanung sind besser. Auf dem Land ist die Geburtenrate höher, Paare entscheiden sich dort eher zu heiraten und Kinder zu bekommen.

SPIEGEL: Die Geburtenrate in Tokio liegt aktuell bei nur noch 0,99. Die Stadtverwaltung will die App »Tokyo Futari Story« herausbringen, um Paare zum Kinderkriegen zu animieren. Was versprechen Sie sich davon?

Yamash*ta: Was entscheidend ist an dieser App ist meiner Meinung nach das Signal, das die Regierung damit aussendet. Lange verbreitete sie nämlich die Botschaft: Die Leute sollen hart arbeiten, Geld verdienen. Sie sollen Leistung bringen. Die App ist ein Zeichen, sie sagt: Bekommt ruhig Kinder. Kinder sind wichtig, Familien sind wichtig. Konzentriert euch auf das Heiraten und Familie-Gründen. Es werden andere Werte gefördert als noch vor zehn Jahren.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Eine ausführliche FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

Die Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt das Projekt seit 2019 für zunächst drei Jahre mit einer Gesamtsumme von rund 2,3 Millionen Euro – rund 760.000 Euro pro Jahr. 2021 wurde das Projekt zu gleichen Konditionen um knapp dreieinhalb Jahre bis Frühjahr 2025 verlängert.

Ja. Die redaktionellen Inhalte entstehen ohne Einfluss durch die Gates-Stiftung.

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Der SPIEGEL hat in den vergangenen Jahren bereits zwei Projekte mit dem European Journalism Centre (EJC) und der Unterstützung der Bill & Melinda Gates Foundation umgesetzt: die »Expedition ÜberMorgen « über globale Nachhaltigkeitsziele sowie das journalistische Flüchtlingsprojekt »The New Arrivals«, in deren Rahmen mehrere preisgekrönte Multimedia-Reportagen zu den Themen Migration und Flucht entstanden sind.

Die Stücke sind beim SPIEGEL zu finden auf der Themenseite Globale Gesellschaft.

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